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DEZA
Ausgabe: 03/2021

Effiziente humanitäre Hilfe beginne bereits vor Eintritt einer Katastrophe, sagt Maarten van Aalst, Direktor des «Climate Centre» des Roten Kreuz. Frühwarnsysteme und damit gekoppelte Finanzierungsmechanismen seien entscheidend, um die Widerstandsfähigkeit von Benachteiligten gegenüber Klimaschocks zu stärken.

Herr van Aalst, Sie beschäftigen sich als Klimaforscher praktisch täglich mit Risiken und Verlusten aufgrund der Klimakrise. Wie stark haben wetter- und klimabedingte Katastrophen in den letzten Jahren zugenommen?

Unser «World Disasters Report» von 2020 zeigt, dass diese viel schneller zunehmen als zum Beispiel Vulkanausbrüche oder Erdbeben. 97 Prozent der beinahe 100 Millionen Menschen, die im Jahr 2019 von einer Katastrophe betroffen waren, litten unter Dürren, Überschwemmungen, Waldbränden, Hitzewellen, Stürmen, Erdrutschen oder Krankheitsausbrüchen nach einem wetter- und klimabedingten Ereignis. Mit Hilfe von Studien gelingt es uns immer besser, direkte Zusammenhänge zwischen der Klimaerhitzung und diesen Katastrophen zu belegen.

Als das «Climate Centre» vor 20 Jahren gegründet wurde, schenkte man der globalen Erhitzung in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit noch wenig Aufmerksamkeit. Wie hat sich dies über die Jahre verändert?

Der Fokus lag damals noch stark auf den Veränderungen von globalen Phänomenen, wie dem Anstieg der Durchschnittstemperatur oder des Meeresspiegels. Man erwartete, dass die klimabedingten Risiken graduell zunehmen und wir uns graduell an diese anpassen können – in meiner Heimat, den Niederlanden, zum Beispiel indem wir die Deiche erhöhen. Wir mussten dann aber lernen, dass Anpassungen an Klimaveränderungen an Orten wie Bangladesch etwas komplett anderes bedeutet. Dort gab es keine Flutmauern, die man hätte erhöhen können. Wir mussten also umdenken und begannen in Frühwarnsysteme und das Wissen der Menschen vor Ort zu investieren. Heute können wir Hurrikane ja oft schon Tage im Voraus prognostizieren. In Bangladesch konnten dadurch Millionen von Menschenleben gerettet werden.

Nach dem Superzyklon «Amphan» im Mai 2020 standen viele Menschen in Ostindien und Bangladesch vor dem Nichts. © Stringer Xinhua/eyevine/laif
Nach dem Superzyklon «Amphan» im Mai 2020 standen viele Menschen in Ostindien und Bangladesch vor dem Nichts. © Stringer Xinhua/eyevine/laif

Wie schwierig war es, die internationale Gemeinschaft und die grossen staatlichen Geldgeber dafür zu gewinnen, in Frühwarnsysteme und die Resilienz der Menschen vor Ort zu investieren?

Zu Beginn sehr schwierig: Die humanitäre Hilfe operierte lange Zeit gemäss den Spendenmechanismen, dass Gelder erst dann flossen, wenn eine Katastrophe bereits eingetreten war. Erst 2015 hatten wir unsere Partner soweit, dass – basierend auf unseren Prognosen – Hilfsgelder auch vor dem Eintritt eines Ereignisses aktiviert werden konnten. Wir nennen das heute «Forecast-Based Financing».

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Katastrophenmanager für das Rote Kreuz in Uganda, wo wir erstmals mit einem solchen Instrument experimentiert hatten. Sie erhalten eine Warnung für eine grosse Überschwemmung und wissen, dass solche in der Vergangenheit oft zu Cholera-Ausbrüchen geführt haben. Sie möchten also Vorbereitungen treffen, können dies aber nicht, weil dafür keine Gelder zur Verfügung stehen. Falls sie nun andere Finanzierungsquellen nutzen und dann keine Überschwemmung eintritt, könnten Sie später dafür beschuldigt werden, die Spendengelder unverantwortlich eingesetzt zu haben. Es fehlten also Anreize, um vorausschauend zu handeln.

Und wie arbeitet der Katastrophenmanager in Uganda heute?

Dank des EU-Systems «Global Flood Awareness System» verfügen wir mittlerweile über sehr gute Daten zur Prognose von Überschwemmungen auf der ganzen Welt. In Zusammenarbeit mit dem meteorologischen Institut in Uganda haben wir einen Mechanismus entwickelt, über den automatisch Gelder aus einem Fonds des Roten Kreuzes frei werden, sobald eine Warnung ausgelöst wird. Dadurch können Wasserbehälter und Chlortabletten verteilt werden, wodurch die Betroffenen auch während einer Überschwemmung weiterhin Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Selbst wenn die Katastrophe am Ende nicht eintreten sollte, ist das noch immer etwa hundert Mal günstiger, als wenn wir vor Ort einen Choleraausbruch bekämpfen und medizinische Teams schicken müssen. Wir retten also nicht nur Leben, sondern wir sparen auch viele Spendengelder. Heute arbeiten wir in 35 Staaten mit solchen Vorsorgemechanismen.

Alleine durch Wasserbehälter und Chlortabletten ist das Überleben der Betroffenen aber nicht gesichert. Was kommt danach?

Richtig. Nehmen wir das Beispiel des Superzyklons «Amphan», der im Mai 2020 viele Dörfer in Ostindien und Bangladesch zerstörte. Die Menschen wurden zwar erfolgreich evakuiert, standen danach aber vor dem Nichts. Entweder sind sie nun lange von humanitärer Hilfe abhängig oder sie leben in extremer Armut und kämpfen täglich ums Überleben. Wir haben dann zwar Leben, aber keine Existenzen gerettet. Deshalb begannen wir vor drei Jahren bereits vor dem Katastrophenereignis Bargeld an bedrohte Menschen auszubezahlen.

Für diese Bäuerin in Bangladesch ermöglicht  der Besitz einer Kuh oder eines Rinds auch nach einer Naturkatastrophe ein gewisses Einkommen.  © Ben Depp/Polaris/laif
Für diese Bäuerin in Bangladesch ermöglicht der Besitz einer Kuh oder eines Rinds auch nach einer Naturkatastrophe ein gewisses Einkommen. © Ben Depp/Polaris/laif

Und wofür nutzen diese das Geld?

Nehmen wir das Beispiel einer alleinerziehenden Frau in Bangladesch mit mehreren Kindern und einer Kuh als einzige Einkommensquelle. Das Geld ermöglicht der Frau, die Kuh frühzeitig an einen sicheren Standort zu bringen und Essen für sich und ihre Kinder für die Dauer des Zyklons zu kaufen. Wenn sie nach der Evakuation ins zerstörte Dorf zurückkehrt, so hat sie immerhin noch ihre Kuh, die ihr die Versorgung mit Milch und ein kleines Einkommen garantiert. Das ist sowohl aus humanitärer als auch aus wirtschaftlicher Perspektive sehr sinnvoll. Künftig möchten wir solche Bargeldauszahlungen noch stärker an bestehende staatliche Sozialversicherungssysteme koppeln. Sozialversicherungen müssen zunehmend Klimaschocks antizipieren können oder zumindest viel schneller reagieren, so dass zum Beispiel Bauern während einer Dürre nicht wochenlang auf Hilfszahlungen warten.

Die Klimakrise wird sich den meisten Prognosen zufolge weiter verschärfen. Wo liegen die grössten Herausforderungen, um die Verletzlichsten darauf vorzubereiten?

Reiche Nationen haben an der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 versprochen, jährlich 100 Milliarden US-Dollar für die Klimaadaption auszugeben. Dieses Ziel wurde noch längst nicht erreicht. Zudem gehen die Beiträge bislang meist nicht an die Verletzlichsten, sondern an Regierungen mit gut ausgearbeiteten Adaptionsplänen. Nur wer die Mechanismen des «Green Climate Fund» kennt, kann davon profitieren. Dafür müssen Regierungen mit Studien belegen, wieso bestimmte Investitionen nötig sind. Fragile Staaten mit einer Vielzahl von Konflikten können das meist nicht. Im bereits erwähnten «World Disasters Report» haben wir auch analysiert, wieviel Adaptionsgelder pro Kopf ausbezahlt werden, relativ zur Klimavulnerabilität. Dabei zeigte sich: Die Verletzlichsten erhalten oft noch viel zu wenig Unterstützung. Die Finanzierungsmechanismen für die Adaption wurden aus einer globalen Perspektive auf die Klimaproblematik heraus entwickelt, aber nicht aus dem Blickwinkel der Verletzlichsten. Es fehlen nach wie vor gute Konzepte, wie wir diese am besten erreichen können.

Klimagerechtigkeit und der «Green Climate Fund»

Laut dem Klima-Risiko-Index der NGO «Germanwatch» sind acht von zehn Ländern, die 2019 am stärksten unter Extremwetterereignissen litten, solche mit niedrigen und unteren mittleren Einkommen. Die Hälfte gehört zu den am wenigsten entwickelten Staaten. Sie haben historisch am wenigsten zur Klimaerhitzung beigetragen, leiden jedoch bereits am stärksten unter der Klimakrise. Die Industrieländer haben sich dazu verpflichtet, im Rahmen des «Green Climate Fund» ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar für Mitigation (Reduktion von Treibhausgasen) und Adaption (Schutz vor den Auswirkungen der globalen Erhitzung) in Entwicklungsländern zu investieren. Das UN-Umweltprogramm (UNEP) schätzt, dass bereits heute jährlich 70 Milliarden US-Dollar alleine für die Klimaadaption von Entwicklungsländern nötig wären. Bis 2030 könnte diese Summe auf 140 bis 300 Milliarden ansteigen. 2020 haben 49 Staaten insgesamt 10.3 Milliarden US-Dollar in den «Green Climate Fund» einbezahlt (Schweizer Beitrag: 100 Millionen US-Dollar). Das entspricht rund zehn Prozent der ursprünglich vereinbarten Summe.

MAARTEN VAN AALST ist Direktor des global operierenden «Climate Centre», welches die Organisationen des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds in Fragen des Risikomanagements und der Klimakrise berät. Er ist Professor für Klima- und Katastrophenresilienz an der Universität Twente (Niederlande). Zudem gehört er zu den koordinierenden Hauptautoren des «Intergovernmental Panel on Climate Change» (IPCC), das in seinen Sachstandberichten alle fünf bis sieben Jahre die aktuelle wissenschaftliche Evidenz für die globale Erhitzung zusammenträgt. Van Aalst hat Atmosphärenphysik studiert und arbeitete für die Weltbank, regionale Entwicklungsbanken, die OECD und mehrere Staaten.

© IFRC Climate Centre
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