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DEZA
Text: Luca BetiAusgabe: 04/2020

Kein Hunger mehr bis 2030 – das hat sich die internationale Gemeinschaft 2015 zum Ziel gesetzt. Doch mit den aktuellen Methoden der Nahrungsmittelproduktion bleibt dieses Ziel unerreichbar. Es braucht einen grundlegenden Wandel hin zur Agrarökologie.

Kleinbauer in Thika im Nordosten von Kenias Hauptstadt Nairobi: Eines der Schlüsselprinzipien der Agrarökologie ist der Anbau diverser Arten auf demselben Gelände, wodurch man das natürliche Ökosystem wiederherstellt.  © Sven Torfinn/laif
Kleinbauer in Thika im Nordosten von Kenias Hauptstadt Nairobi: Eines der Schlüsselprinzipien der Agrarökologie ist der Anbau diverser Arten auf demselben Gelände, wodurch man das natürliche Ökosystem wiederherstellt. © Sven Torfinn/laif

«In der Agrarproduktion braucht es einen Systemwechsel! Alle Fachleute sind sich darin einig. Die Uneinigkeit beginnt dann, wenn man versucht, sich über einen möglichen Weg dahin zu verständigen», sagt Urs Niggli, Ex-Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL). Immerhin, das Ziel wurde fixiert und steht an zweiter Stelle in der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung: ein Ende des weltweiten Hungers, Nahrungsmittelsicherheit, Verbesserung der Ernährungslage und das Vorantreiben einer nachhaltigen Landwirtschaft. Noch fehlen zehn Jahre bis zum gesetzten Datum, aber «Null Hunger» scheint weiter weg denn je.

Gemäss dem letzten UNO-Bericht zur Ernährungssicherheit und der Welternährungslage haben 2019 rund 690 Millionen Menschen an Hunger gelitten. Das sind 60 Millionen mehr als 2015, als die Internationale Gemeinschaft die Agenda 2030 verabschiedete. Nach jahrelangem Rückgang der Zahlen registrierte man ab 2014 einen Anstieg Hungerleidender, eine Entwicklung, die nun durch die von Covid-19 bedingte weltweite Rezession noch verstärkt wird.

Vertrackte Situation

Die Krise deckt auf, wie verletzlich und ungeeignet die aktuellen Systeme der Nahrungsmittelgewinnung sind. Die Erde wäre in der Lage, zehn Milliarden Menschen – so viele werden 2050 den Planeten bevölkern – zu ernähren. Dazu braucht es gemäss einem kürzlich erschienenen Bericht der Welternährungsorganisation FAO einen grundlegenden Wandel hin zu Agrarökologie und anderen innovativen Methoden.

«Die einen sagen, man müsse auf extensive Landwirtschaft, wie zum Beispiel die Bioproduktion, setzen», erläutert Niggli. «Andere sagen, man müsse auf neue Technologien setzen und in eine gesteigerte Effizienz investieren». Sicher ist: Die konventionelle Landwirtschaft hat zusammen mit Waldbewirtschaftung und anderen Formen der Landnutzung die Umwelt negativ beeinflusst. Sie verursacht 23 Prozent der Treibhausgasemissionen, führt zu weniger Biodiversität, fördert Bodenerosion sowie den Verlust von Humus und ist verantwortlich für einen grossen Teil der Wasserverschmutzung.

Es ist vertrackt: Die Landwirtschaft leidet unter den Folgen des Klimawandels, den sie selbst mitverantwortet. «Die Lösung ist die Agrarökologie», sagt Hans Hurni, emeritierter Professor am Zentrum für nachhaltige Entwicklung und Umwelt an der Uni Bern. «Bei dieser Art der Landwirtschaft vereinigt man verschiedene Aspekte: nicht nur die Bioproduktion, sondern auch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebensrealitäten der Bauern».

Ausgewogene Ernährung wird begünstigt

Die Agrarökologie vereint Wissenschaft, Praxis und soziale Bewegung. Eines ihrer Schlüsselprinzipien ist die Diversifikation durch den Anbau diverser Arten auf demselben Gelände, wodurch man die natürlichen Ökosysteme wiederherstellt. Die Methode stärkt die Resilienz und die klimatische Anpassungsfähigkeit der Ökosysteme, deren Widerstandskraft gegen Krankheiten und Aufnahme von Nährstoffen. Sie begünstigt auch eine ausgewogene Ernährungsweise, denn die Bauern entscheiden selber, was sie anbauen wollen.

«Nebst dem, dass der ökologische Landbau die Pflanzen gegen Parasiten und Trockenheit stärkt, fördert er auch die Ernährungssicherheit und eine gesunde Ernährung», betont Tina Goethe, Expertin für das Recht auf Nahrung der Nichtregierungsorganisation Brot für Alle. «In Honduras zum Beispiel haben diejenigen, die Mais, Bohnen, Früchte und Gemüse anbauten und Haustiere hatten, die Corona-Krise ohne grössere Probleme überstanden. Bei denen, die nur Kaffee anbauten, war das nicht so».

Wende hin zur Ernährungssicherheit

Was Goethe in Erinnerung ruft, beweist auch eine kürzlich von der NGO Biovision und der FAO durchgeführte Studie: Die Agrarökologie ist ein wirksames Instrument, um die Konsequenzen des Klimawandels zu bekämpfen, die Widerstandskraft von Mensch, Tier und Pflanzen zu stärken, die Biodiversität zu steigern und das Wissen und den Austausch zwischen Bauern und Forschenden zu fördern.

Agrarökologie ist nicht gleichzusetzen mit biologischer Landwirtschaft. «Viele Jahre habe ich mich mit dieser Anbauform beschäftigt, und ich kenne auch ihre Grenzen», sagt Urs Niggli. «Die Agrarökologie hingegen ist die ideale Form, um neue Technologien, ökologische Anbaumethoden und die Erfahrung der Bauern miteinander zu verbinden – das ist ein zentrales Element in der Entwicklungszusammenarbeit». Der Übergang zum neuen System geschieht zweifellos über die bäuerlichen Kleinfamilien.

Gemäss internationalen Studien könnten 500 Millionen Kleinbauern ihre Produktion damit verdoppeln. Bereits heute könnten sie geschätzte 70 Prozent der Bevölkerung Asiens und Afrikas südlich der Sahara ernähren. «Monokulturen haben den Gipfel ihrer Produktivität erreicht, deshalb müssen wir uns nun auf die Kleinbauern konzentrieren, um die vorhandene Nahrungsmittelmenge zu erhöhen», unterstreicht Hurni.

Paradoxerweise leben 75 Prozent der an Hunger leidenden Menschen auf dem Land und von der Landwirtschaft. Und auch hier liegt die Antwort in der Agrarökologie, einer multifunktionellen Herangehensweise, die demokratische Prozesse fördert, welche die Ernährungssouveränität begünstigen. Gemeint ist die Kontrolle über die Produktion, den Boden, das Wasser und die genetischen Ressourcen der lokalen Gemeinschaften. «Beispielsweise ist es wichtig, dass die Bauern Kooperativen schaffen, um ihre Produkte ohne Zwischenhändler auf dem lokalen Markt zu verkaufen – und somit gegen die Armut kämpfen», hebt Tina Goethe hervor. «Im Vergleich zur biologischen Produktionsweise konfrontiert die Agrarökologie in direkterer Weise menschenrechtliche Fragen sowie Fragen von Einkommen und einem würdigen Leben».

Die Zeit drängt

Anstatt von einer weiteren Produktivitätssteigerung spricht Urs Niggli lieber von einer Drosselung des Konsums: «Wir könnten problemlos mit einer 20 bis 30 Prozent niedrigeren Agrarproduktion leben. Dies aber nur, wenn wir unsere Ernährungsgewohnheiten ändern, beispielsweise unseren Fleischkonsum reduzieren. Gegenwärtig gibt es jedoch eine Tendenz zu mehr Fleisch. Vor allem der Mittelstand in den Entwicklungsländern betrachtet Fleisch als Synonym von Wohlstand».

Das solle jedoch nicht heissen, den Fleischkonsum generell zu verurteilen, aber man sollte mehr auf Wiederkäuer, wie Kühe und Schafe setzen, die Gras fressen. Getreide wiederum sollte man nicht als Geflügel- und Schweinefutter nutzen, und schon gar nicht, um die Milchproduktion von Kühen zu erhöhen.

Um Hunger auszurotten, braucht es eine nachhaltige Ernährungsweise und eine Halbierung der Verschwendung von Nahrungsmitteln. «Zudem müssen wir aufhören, Biobrennstoffe auf Kulturen herzustellen, die für Nahrungsmittel- und Futterproduktion bestimmt sind», betont Hans Hurni. «Nützen wir doch das wenige Gelände, das wir haben, um Nahrungsmittel anzubauen».

Gefragt sind nun unterstützende politische Interventionen auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene und einen Wechsel hin zu einem Ernährungssystem, welches der menschlichen Gesundheit, der Umwelt und dem sozialen Wohlbefinden dient. «Heute können wir noch wählen», sagt Urs Niggli. «Doch je mehr die Erderwärmung ansteigt, umso weniger Optionen werden wir haben».

Finanzierung der Agrarforschung

85 Prozent der Gelder aus der Gates-Stiftung, welche landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte unterstützen, landen in der industriellen Nahrungsmittelproduktion in Afrika südlich der Sahara. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der NGO Biovision, der Expertengruppe IPES-Food und dem Institut für Entwicklungsstudien IDS. Biovision-Präsident Hans R. Herren unterstreicht jedoch: «Der industrielle Zugang ist in Afrika auf der ganzen Linie gescheitert.» Das System der Agrarökologie propagiere nicht Universalrezepte, sondern fordere die Entwicklung lokaler Lösungen, hebt die Studie hervor. Diese analysierte auch die landwirtschaftlichen Forschungsprojekte, die von der DEZA unterstützt wurden: 51 Prozent der Projekte enthielten Elemente des ökologischen Landbaus, 41 Prozent förderten eine würdige Arbeitssituation und die Geschlechtergleichstellung. Nur 13 Prozent der von der Schweiz unterstützten Initiativen fokussierten sich auf eine industrielle Landwirtschaft.

Studie «Money flows»: www.agroecology-pool.org (Moneyflowsreport)

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