Das DEZA-Magazin für
Entwicklung und Zusammenarbeit
DEZA
Text: Luca BetiAusgabe: 01/2022

Sechzig Jahre nach der Schaffung der heutigen internationalen Zusammenarbeit ruft Bundespräsident Ignazio Cassis zu mehr Optimismus auf. Der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) erinnert daran, dass der Mensch im Allgemeinen noch nie in einer so sicheren und wohlhabenden Welt gelebt hat wie heute. Dekarbonisierung und Digitalisierung sind die wichtigsten Herausforderungen der Zukunft; davon wird die Lösung der grössten Probleme der Menschheit abhängen.

Zu Besuch in einem Schulzimmer in Senegal: Der Bereich Bildung ist ein wichtiger Bereich der Subsahara-Afrika-Strategie des Bundesrates und ein Schwerpunkt der DEZA-Arbeit vor Ort. © EDA
Zu Besuch in einem Schulzimmer in Senegal: Der Bereich Bildung ist ein wichtiger Bereich der Subsahara-Afrika-Strategie des Bundesrates und ein Schwerpunkt der DEZA-Arbeit vor Ort. © EDA

Die heutige Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz geht auf das Jahr 1961 zurück. 1961 ist auch Ihr Geburtsjahr. Sie sind also Kinder der gleichen Zeit. Was haben Sie gemeinsam?

Im gleichen Jahr flog Juri Gagarin in den Orbit, Berlin wurde durch eine Mauer in zwei Teile getrennt, und die Beatles gaben ihr erstes Konzert. Wir sind alle Kinder der gleichen Zeit: den Jahren des Wiederaufbaus nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg, der 50 Millionen Menschen das Leben kostete und die Infrastruktur zerstörte. Jean Fourastié nannte die Zeitspanne nach dem Ende des Krieges «die dreissig glorreichen Jahre». Die Bezeichnung mag pompös klingen, ist aber begründet: Dank des unglaublichen Wirtschaftswachstums von mehr als vier Prozent war die Arbeitslosigkeit Vergangenheit, und die Zukunft versprach die Verwirklichung zahlreicher Träume – von der Eroberung des Weltraums bis zur Überwindung von Armut und Hunger auf der ganzen Welt. Ignazio Cassis und die Entwicklungszusammenarbeit sind Kinder der gleichen Zeit. Einer Zeit, in der alles möglich schien. Jedenfalls bis 1973, als die erste Ölpreiskrise kam.

«DAS VERSTÄNDNIS FÜR ANDERE UND DEREN AKZEPTANZ SIND VON GRUNDLEGENDER BEDEUTUNG, UM KONSTRUKTIV ZU HANDELN UND IN EINEN DIALOG ZU TRETEN.»

Seither hat sich viel verändert. Was hat Ihre Weltanschauung geprägt? Und wie hat sie sich verändert, seitdem Sie dem EDA vorstehen?

Mit der ersten Ölpreiskrise kam auch die Vernunft langsam wieder zurück. Das rapide Wirtschaftswachstum hatte zur 68er-Bewegung geführt, die ein ganzes Wertesystem in Frage stellte. Ich besuchte damals das Gymnasium in Lugano, später studierte ich an der Universität Zürich. Es galt, die Welt neu zu definieren – ähnlich wie heute. Drogen waren ein Thema, dann Aids, ausserdem das wachsende Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Wir begannen zu begreifen, dass unsere Ressourcen nicht unendlich sind und dass es neben Wohlstand auch Umweltschutz und Nachhaltigkeit braucht. Begriffe, die uns bis heute begleiten.

Zudem begann der Paternalismus der Selbstbestimmung Platz zu machen, was unter anderem durch die technologische Revolution und den Wohlstand möglich wurde. Computer kamen auf, die Digitalisierung begann. Die IKT-Revolution in den 90er-Jahren stellte das Verständnis von Raum und Zeit auf den Kopf und läutete die Globalisierung ein. Ich war in der Zwischenzeit Arzt geworden und interessierte mich immer mehr für Themen der Allgemeinheit. So stieg ich in die Politik ein. Klassische Werte wie Bescheidenheit und Fleiss liessen wir hinter uns, wir lebten vermehrt nach hedonistischer Manier und waren auf Selbstverwirklichung bedacht. Nach und nach wurden mir die Herausforderungen der sogenannten Zivilisation bewusster. Die Sicht auf die Wirklichkeit der Welt, wie sie sich vom privilegierten Standpunkt eines EDA-Vorstehers bietet, hat mein Verständnis für gemeinschaftliche Phänomene erweitert.

Als Arzt und Mitglied des Fairmed-Stiftungsrats und heute als Bundespräsident hatten Sie immer wieder Gelegenheit, Projekte in Entwicklungsländern zu besuchen. Gibt es etwas, das Sie bei diesen Reisen besonders berührt hat?

Jedes Projekt ist mit Geschichten von Frauen und Männern verbunden, die sich aus Erlebtem und Erfahrenem sowie aus der Zusammenarbeit mit den Partnern vor Ort speisen. Für mich gibt es dabei zwei Aspekte. Zum einen die menschliche Seite, die meine Wertschätzung für Solidarität und christliche Nächstenliebe nach sich zieht. Zum anderen die analytische Seite, die mich veranlasst, auch unbequeme Fragen zu stellen. Die missionarische Haltung, die den «dreissig glorreichen Jahren» entsprang und auf welche das westliche Entwicklungsmodell zurückgeht, entbindet uns nicht von einer konsequenten Hinterfragung. Tun wir das Richtige? Und machen wir es gut?

«Unsere Bemühungen gehen dahin, die Menschenrechte dort zu stärken, wo sie schwach sind.»

Solche Reisen bieten die Möglichkeit, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten, nämlich aus jener der DEZA-Mitarbeitenden vor Ort und der Menschen, denen das humanitäre Engagement und die Arbeit der DEZA zugute kommen. Ist dieser Perspektivenwechsel wichtig für Sie?

Vor Ort kann ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie ihre Partner kennenlernen und erfahre, wie sie arbeiten. Ich tausche mich gern mit ihnen aus, um ihre Haltung kennenzulernen, die Logik zu verstehen, der sie folgen, und Einblick in ihre Arbeit zu erhalten. Ich sehe, was sie tun und welches Know-how dafür erforderlich ist. Wenn ich nach Bern zurückkehre, bringe ich diese Bilder mit. Die zahlreichen Dokumente, die auf meinem Schreibtisch landen, werden so mit Bildern verbunden und sind nicht mehr nur Worte auf Papier. Es sind auch aussagekräftige Bilder, die den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern zeigen, wie wir ihr Geld einsetzen. Ohne diese Mittel könnten wir die Projekte nicht durchführen.

Sie sind für persönliche Freiheit, für Eigenverantwortung, für unternehmerische Freiheit. Kann man die internationale Entwicklungszusammenarbeit auch als Investition in diese Werte sehen?

Unbedingt. Wird die Schweiz adäquat wahrgenommen in der Welt, hat dies starke Auswirkungen auf unsere Sicherheit, unseren Wohlstand und unser Wohlbefinden. Schaffen wir zum Beispiel zusammen mit privatwirtschaftlichen Partnern Arbeitsplätze, so können die Menschen vor Ort ihre Grundbedürfnisse decken und für ihre Familien sorgen. Daraus erwächst Freiheit.

«Meiner Ansicht nach lassen wir uns zuweilen von kurzfristigen Gegebenheiten blenden.»

Aber haben nicht gerade diese Grundsätze die Ungleichheit in der Welt gefördert? Sollten wir nicht die Spielregeln ändern, um den Reichtum zwischen armen und reichen Ländern neu zu verteilen? Gibt es einen anderen Weg als den bisherigen?

Das wird in der ganzen Welt diskutiert, auch im Westen, aber nicht nur. Welche Gesellschaftsorganisation wollen wir? Demokratie oder Autarkie? Kapitalismus oder Kommunismus? Oder neue Organisationsformen? Welches Modell bringt allen Menschen Sicherheit, Freiheit und Wohlfahrt? Werte, auf denen die Schweiz gründet (Art. 2 Bundesverfassung). Welches Modell wird es in hundert Jahren noch geben? Das sind mehr Fragen als Antworten. Wie zu jeder Zeit, in allen Epochen. Die Vereinten Nationen haben mit der Agenda 2030 den Weg aufgezeigt, den wir beschreiten müssen, um die Probleme anzugehen, und dieser Weg kann in verschiedene Entwicklungsmodelle integriert werden.

Dieses Jahr sind Sie nicht nur EDA-Vorsteher, sondern auch Bundespräsident. Welche Themenschwerpunkte setzen Sie während des Präsidialjahrs?

Zwei Themen stehen im Zentrum: Vielfalt und Innovation. Vielfalt, weil sie mein ganzes Leben als Vertreter einer sprachlichen Minderheit geprägt hat. Innovation, weil sie meine Neugier anstachelt und die Grundlage meiner Tätigkeit als Arzt war.

Und wie sind diese Themen mit der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz verbunden?

Vielfalt ist die eigentliche Basis der internationalen Zusammenarbeit. Das Verständnis für andere und deren Akzeptanz sind von grundlegender Bedeutung, um konstruktiv zu handeln und in einen Dialog zu treten. Heute spricht man oft von Inklusion. Und Innovation setzt sich die internationale Zusammenarbeit schon seit Jahren zum Ziel, und die DEZA ist stark sensibilisiert für diese Dimension; man denke nur an die «Tech4Good»-Partnerschaften, die für die Armutsminderung und die Nachhaltigkeitsförderung auf digitale Technologien setzen. In der internationalen Zusammenarbeit werden diese beiden Elemente immer wichtiger.

Hochrangiges Treffen in Senegal im Februar 2021: Im Zentrum des Gesprächs zwischen Senegals Aussenministerin Aïssata Tall Sall und Bundesrat Ignazio Cassis  standen das grosse wirtschaftliche Potenzial des Senegal sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Digitalisierung und Klima. © EDA
Hochrangiges Treffen in Senegal im Februar 2021: Im Zentrum des Gesprächs zwischen Senegals Aussenministerin Aïssata Tall Sall und Bundesrat Ignazio Cassis standen das grosse wirtschaftliche Potenzial des Senegal sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Digitalisierung und Klima. © EDA

Als Bundespräsident werden Sie sich vermehrt nationalen Fragen widmen müssen. Werden Sie für die IZA noch die nötige Zeit finden?

Das will ich jedenfalls. Aber wir wissen alle: Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Aber wir können uns auf die Zukunft vorbereiten. Projekte wie GESDA oder das IC-Forum gehen in diese Richtung. Sämtliche Akteure der Gesellschaft sind aufgerufen, Herausforderungen und Chancen zu antizipieren, unter Einbezug von neuen Technologien.

60 Jahre nach ihrer Gründung sieht sich die internationale Zusammenarbeit zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Klimawandel, neue Konflikte, Aufstieg des Autoritarismus, Diskriminierung, Schwächung der Menschenrechte und anderes mehr. Was ist Ihre grösste Sorge?

Ich denke, die beiden wichtigsten Trends der kommenden 10 bis 20 Jahren sind die Dekarbonisierung und die Digitalisierung. Wie gut oder schlecht wir diese Herausforderungen meistern und welche Richtung wir einschlagen, wird sich auf die übrigen Themenkreise auswirken, die Sie aufgezählt haben.

Beim Thema Menschenrechte hat man oft den Eindruck, dass diese hintangestellt werden, wenn wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen.

Die Menschenrechte und ihre Definition sind das Resultat einer kontinuierlichen gesellschaftlichen Entwicklung – von der Aufklärung bis heute. Sie werden sich auch in Zukunft entwickeln und sich den Menschen und Gemeinschaften anpassen. Unsere gemeinsamen Bemühungen gehen dahin, die Menschenrechte dort zu stärken, wo sie schwach sind. Die Schweiz war bei diesen Anstrengungen immer führend, sie sind auch in den neuen Leitlinien des EDA verankert und kommen auch online, respektive im digitalen Raum zum Ausdruck. Hier haben wir unser Engagement ausgebaut, insbesondere im internationalen Genf.

Beunruhigend ist auch der Gedanke, dass wir den nächsten Generationen eine zerstörte Welt hinterlassen. Oder ist das eine pessimistische Sicht, die Sie nicht teilen? Was stimmt Sie optimistisch?

Die westliche Welt, in der wir leben, leidet unter einem gewissen Obskurantismus, wozu vielleicht auch die allgemeine Covid-19-Müdigkeit beiträgt. Es gibt einen kollektiven Diskurs, der das Ende der Welt an die Wand malt. Meiner Ansicht nach lassen wir uns zuweilen von kurzfristigen Gegebenheiten blenden. Ich glaube, dass der Mensch noch nie in einer so sicheren und wohlhabenden Welt gelebt hat wie heute. Klar, es gibt noch viel zu tun. Aber wir haben bereits zahlreiche Herausforderungen gemeistert, wir werden auch in Zukunft viele meistern. Mit dieser Einstellung betrachte ich auch die internationale Zusammenarbeit.

Glauben Sie also, dass die internationale Zusammenarbeit eines Tages überflüssig sein wird?

Davon dürfte die Mehrheit der Weltbevölkerung träumen! Auch ich teile diesen Traum. Ich hoffe, dass die Entwicklung auf allen Kontinenten erfolgreich verläuft, so dass keine Hilfe mehr nötig ist, und dass der wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle und soziale Austausch durch Kooperationsabkommen geregelt ist.

Kommen Sie mit. Ab April 2024 finden Sie alle Geschichten rund um die Humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz auf deza.admin.ch/geschichten.

Wir freuen uns auf ihren Besuch.
Weitere Infos
Wir ziehen um.