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DEZA
Text: Walter RuggleAusgabe: 04/2023

Georgien, der Balkon Europas, liegt zwischen dem Grossen und dem Kleinem Kaukasus am Schwarzen Meer. Das Land hat eine starke Identität, was sich in der eigenen Sprache und Schrift zeigt, in der Kunst und dort besonders im Kino. Das Filmschaffen aus Tiflis hat unterschiedliche Phasen durchlebt, erstaunliche Eigenständigkeit und etwas Elementares bewahrt: seinen lakonischen Humor.

«Othar’s Death» (2021) © trigon-film
«Othar’s Death» (2021) © trigon-film

Sandro ist Lehrer in Tiflis. Er lebt als 40-Jähriger bei den Eltern, die sich dauernd in seine Existenz einmischen: Eine Frau müsse her. Freund Iva drängt ihn dazu, es über Blind Dates zu versuchen; aber so recht will das nicht funken. Aber dann, bei einem Ausflug ans Schwarze Meer, verliebt sich Sandro in die Coiffeuse Manana, deren Mann im Knast sitzt. Dumm nur, dass er bald freikommt und Sandros Leben endgültig surreale Züge annimmt. Damit sind wir mitten im georgischen Kino.

«Blind Dates» heisst das Debüt von Levan Koguashvili, geboren 1973 in Tiflis, ausgebildet an der Filmhochschule in Moskau, was bis in die 1990er-Jahre der Standardweg ins Filmschaffen war. Ich greife diesen Film hier als leuchtendes Beispiel heraus, denn Koguashvili versteht es, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, auf ein paar wenige Figuren, die er liebevoll zeichnet, die den Blues der Zeit auf ihren schmalen Schultern tragen und verloren dastehen in einer überschaubar kleinen Welt – sie ist auch so allen irgendwie zu gross.

Keine Hektik, viel Lakonik

Der Georgier steht mit diesem Ansatz in der Tradition eines Filmschaffens, das sich bereits zu Sowjetzeiten wohltuend abhob vom Moskauer Diktat. Georgische Filmschaffende fokussieren den Alltag, inszenieren ihre Figuren mit voller Zuneigung in Dekors, die mindestens genauso viel erzählen wie die Handlung selbst. Hektik gibt es nicht, Lakonik umso mehr. Kargheit gehört zu den Qualitäten. Nichts wirkt überhöht, geschehe, was wolle: Die Figuren sind ihrem Schicksal ergeben und tragen alles mit stoischer Fassung.

«Wet Sand» (2021)  © trigon-film
«Wet Sand» (2021) © trigon-film

Die Ahnen dieser Filmform arbeiteten zur Zeit der Sowjetunion. Otar Iosseliani («Pastorale» 1975) und Eldar Schengelaja («Die blauen Berge» 1983) sind zwei Namen, die den Lauf der Dinge im Stillstand der Zeit mit Ruhe und visuellem Scharfsinn zu betrachten verstanden. Beim einen war es die Poesie des fliessenden Lebens, die ihre Blüten treiben konnte; beim anderen die Absurdität der Bürokratie; bei beiden elementar der schelmische Blick, die feine Ironie, der trockene Humor. Iosseliani hielt die Eingriffe der Zensur nicht mehr aus und wählte wie Dito Tsintsadze, Nana Dschordschadse oder Nino Kirtadze das Exil.

«And Then We Danced» (2019)  © trigon-film
«And Then We Danced» (2019) © trigon-film

Auffallend in der georgischen Filmgeschichte ist die Präsenz der Frauen – neben den letzten beiden sei Lana Gogoberidse erwähnt, die 1988 Präsidentin der «International Association of Women Directors» wurde. Sie schreibt in ihrer Autobiografie, «Georgien ist eine kleine, einsame, verlassene Nation, umringt von grossen und mächtigen Ländern. Sie bekämpften und überfielen uns, zerstörten unsere Kathedralen und Kirchen. Doch wir überlebten. Und was am Wichtigsten ist: Auch unsere Kultur überlebte.»

Tifliser Avantgarde

Nachdem sich das Land vorübergehend unabhängig erklärt hatte, entstand in den 1920er-Jahren die Tifliser Avantgarde, aus der Konstantin Mikaberidses antibürokratische Satire «Meine Grossmutter» (1929) herausragt, der erste in Georgien verbotene Film. Die bleierne Sowjetzeit unter dem gebürtigen Georgier Stalin wollte Einheitskost – der Diktator persönlich sichtete alle Filme und entschied über die Freigabe. Nach seinem Tod 1953 folgte das Tauwetter unter Chruschtschow, und es war nicht zufällig ein Georgier, der 1957 mit «Wenn die Kraniche ziehen» den Auftakt einer kleinen filmischen Befreiungswelle lostrat und in Cannes die Goldene Palme holte: Michail Kalatosow.

Nach der zurückgewonnenen Unabhängigkeit wurde 2001 das Nationale Zentrum für Cinematografie gegründet. George Ovashvili, der mit «The Other Bank» (2010) und «Corn Island» (2014) auch internationale Erfolge feierte, meint, «dass wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht in der Lage waren, eine neue Filmindustrie aufzubauen. Wir haben Anfang der 2000er-Jahre eine neue Ära des georgischen Kinos eingeleitet, aber bis heute hat keine Regierung verstanden, warum unser Land das Kino braucht. Was wir machen, ist nicht wirklich ein Teil des georgischen Kinos, sondern eher das Ergebnis des Kampfes von Einzelpersonen, die Filme machen wollen.»

«In Bloom» (2014)  © trigon-film
«In Bloom» (2014) © trigon-film

Schaut man sich die Filme an, erkennt man schnell, dass es ohne Koproduktionen nicht geht, wenn auch das Budget nur zehn Prozent einer Schweizer Produktion beträgt. Frankreich taucht als Partnerland auf, Exilierte produzieren von ihrer neuen Heimat aus, wenn sie in Georgien drehen – es entstehen «georgisch-deutsch-luxemburgisch-bulgarisch-tschechisch-türkische» Produktionen. Ovashvili gewinnt dem Zwang zur internationalen Finanzierung auch positive Aspekte ab: «Auf unserem Set wehten 13 verschiedene Fahnen, 13 Sprachen wurden gesprochen. Das Ergebnis ist eine einmalige und universelle Sprache: Kino. Ich glaube, die Vielfalt des Teams hat dem universellen Thema des Films Kraft gegeben.»

Ukraine-Krieg verändert Alltag

Georgische Filme sind sich im ruhigen Blick verwandt und kreisen um Themen, die den Alltag prägen, auch tabuisierte. In «Pipeline Next Door» taucht Nino Kirtadze in den Bau einer Pipeline durch den Kaukasus ein. Sie beschreibt den Einfallsreichtum der ländlichen Bevölkerung im Umgang mit dem Unausweichlichen (Europäischer Filmpreis 2005).

Nach Cannes schaffte es 2014 «In Bloom», in dem das georgisch-deutsche Paar Nana Ekvtimischwili und Simon Gross von den Veränderungen im Leben zweier Mädchen im vom Bürgerkrieg geprägten Tiflis von 1992 erzählt.

 «Blind Dates» (2013)  © trigon-film
«Blind Dates» (2013) © trigon-film

In «And Then We Danced» betrachtet Levan Akin 2019 die Liebesgeschichte zweier Männer aus dem Staatsballett, was homophobe Nationalisten unterstützt von der orthodoxen Kirche auf den Plan rief. Elene Naveriani schreibt zwei Jahre später in «Wet Sand» eine weitere Geschichte, bei der es ums Liebesleben im Verborgenen geht und zwei Frauen einander finden.

Georgien ist ein armes Land, mit seinen 3,5 Millionen Menschen stark patriarchal geprägt, christlich orthodox. Umso wichtiger wirken die Rollen von Frauen in Filmen wie «Wet Sand» oder «Otar's Death» von Ioseb Bliadze (2021). Hier sind zwei alleinerziehende Mütter Hauptfiguren einer Geschichte um einen Jugendlichen, der einen alten Mann anfährt, dessen Familie die Chance wittert, mit dem Toten Geld zu verdienen. Bliadze betrachtet die Korruption und eine Gesellschaft, die hin- und hergerissen ist zwischen Land und Stadt.

«Pipeline Next Door» (2005)  © trigon-film
«Pipeline Next Door» (2005) © trigon-film

2022 kam ein neuer Aspekt dazu: Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind über 120'000 eher gut situierte Menschen aus Russland in die Republik geflüchtet. Ein georgischer Filmproduzent beschreibt mir die Situation im August 2023 so: «Unser Leben hat sich nach dem Krieg stark verändert. Leider haben sich viele Russen hier in Georgien niedergelassen und Häuser, Wohnungen und Geschäfte gekauft. Die russische Aggression wirkt sich auf alle Aspekte unseres Lebens aus, auch aufs Kino.»

* Walter Ruggle ist Publizist und leitete von 1999 bis 2020 die Stiftung trigon-film, die sich für das Kino des Südens und des Ostens engagiert.

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