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Text: Andreas BabstAusgabe: 03/2023

Seit 2017 leben rund eine Million Rohingya in Bangladesch. Die anfängliche Solidarität der Bevölkerung ist Ermüdung gewichen. Die Rohingya drohen zwischen die Fronten zu geraten: Sie sind gefangen in einem Land, das zunehmend andere Probleme hat.

Rund eine Million Menschen sind seit 2017 aus Myanmar über die Grenze nach Bangladesch geflohen – viele von ihnen liessen sich in den Wäldern und den Hügeln in der Nähe von Cox’s Bazar nieder. © Rasmus Degnbol/Redux/laif
Rund eine Million Menschen sind seit 2017 aus Myanmar über die Grenze nach Bangladesch geflohen – viele von ihnen liessen sich in den Wäldern und den Hügeln in der Nähe von Cox’s Bazar nieder. © Rasmus Degnbol/Redux/laif

Hamid hat auf seinem Pult eine Leselampe. Sie hängt an einer Autobatterie: Damit er auch lesen kann, wenn es am Abend stockdunkel wird im Camp. «Ich würde gerne in einem anderen Land studieren», sagt Hamid bei einem Besuch im November 2022, er hat ein bisschen Englisch gelernt. Er ist 15 Jahre alt, sein Pult steht in einer Hütte im grössten Flüchtlingslager der Welt. Hamid ist einer von über einer Million Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch. Die Mehrzahl von ihnen lebt wie Hamid in der Nähe der Stadt Cox’s Bazar.

Die Rohingya stammen eigentlich aus dem benachbarten Myanmar. Aber bereits in den 1980er-Jahren aberkannte ihnen Myanmar die Staatsbürgerschaft. Die muslimische Minderheit wurde vom Militär verfolgt, es vertrieb die Rohingya gewaltsam von ihren Ländereien. Immer wieder fanden Rohingya Zuflucht im ebenfalls muslimischen Bangladesch. 2017 gingen die Militärs in Myanmar mit einer bisher ungesehenen Brutalität gegen die Rohingya vor. In der Provinz Rakhine, in der Nähe der bangladeschischen Grenze, massakrierten die Soldaten ganze Dörfer – Myanmar wird des Genozids beschuldigt, der Fall liegt derzeit beim Internationalen Gerichtshof.

2017 flüchteten rund 750'000 Rohingya über die Grenze nach Bangladesch. Die Zahl der Rohingya im Land explodierte. Viele liessen sich in den Wäldern und Hügeln in der Nähe von Cox’s Bazar nieder. Wo einst Bäume wuchsen, entstand ein Flüchtlingslager. Internationale Hilfsorganisationen lieferten Zeltblachen. NGOs bauten mit Backsteinen Strassen, um Hilfsgüter zu liefern. Die Bäume sind nicht nachgewachsen, das Land ist während der Regenzeit verschlammt. Und noch heute ist im Lager fast alles aus Bambus gebaut.

Auch Hamids Hütte besteht aus Bambus. Er lebt mit seiner Mutter, sein Vater wurde in den Massakern 2017 ermordet. Selbst Hamids Fussball ist aus Bambus: Alles hier soll temporär sein, leicht abzubauen, nach sechs Jahren ist noch immer unklar, was mit den Rohingya im Lager in Zukunft geschehen soll. «Wir wollen zurück in unser Land», sagt Hamid.

Einst Musterschüler der internationalen Entwicklungspolitik

Bangladesch ist selbst ein Entwicklungsland. Es gehört zu den am dichtest besiedelten Ländern der Welt, und der steigende Meeresspiegel frisst jedes Jahr etwas mehr Küste weg. Als die Rohingya 2017 in Bangladesch ankamen, war die Solidarität gross, Bangladesch liess die Grenzen offen, das Land hiess die Rohingya willkommen. Die Bilder gingen um die Welt, es floss viel Geld von der internationalen Gemeinschaft.

Heute ist die Solidarität einer Ermüdung gewichen. Einer der Camp-Leiter in Cox’s Bazar sagt: «Wir geben den Rohingya alles Notwendige, damit sie überleben. Aber wir lassen nicht zu, dass sie sich hier niederlassen. Wir werden nicht zulassen, dass sie sich wie Bengalen fühlen.»

Bevor die Rohingya kamen, war Bangladesch so etwas wie der Musterschüler der internationalen Entwicklungspolitik. Das Land wurde 1971 unabhängig von Pakistan und überholte in den Nullerjahren bereits den grossen Nachbarn Indien bei wichtigen Indikatoren wie Bildung oder Kindersterblichkeit. Noch 1991 waren 58,8 Prozent der Menschen im Land arm, 2016 waren es noch 24,3. Bangladeschs Pro-Kopf-Einkommen ist mit 2500 Dollar nun höher als jenes von Pakistan und Indien.

Allerdings wird das Land von der Premierministerin Sheikh Hasina Wajed zunehmend autoritär regiert. Medienschaffende werden verfolgt. In den Sicherheitskräften existieren Todesschwadronen, welche politische Gegner ausschalten. Die Premierministerin Hasina bezeichnete die Rohingya einst als «Last». Und verfolgt eine Rohingya-Politik, die in Bangladesch viele unterstützten: Isolation statt Integration.

Spannungen zwischen Lokalen und Zugezogenen

Die Rohingya-Kinder dürfen keine Schulen ausserhalb des Camps besuchen. Das heisst, der Zugang zu höherer Bildung ist ihnen verwehrt. Rohingya dürfen nicht ausserhalb des Camps arbeiten. Zu hoch ist das Konfliktpotenzial: Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Konfrontationen mit der Lokalbevölkerung, weil Rohingya-Tagelöhner weniger Geld für gleiche Arbeit verlangen als lokale Arbeiter. Mittlerweile ist um das ganze Lager ein Zaun gezogen. Und Hilfsorganisationen vor Ort versuchen eine komplizierte Balance zu halten: nicht nur den Rohingya zu helfen, sondern auch den Camp-Anwohnern.

Sie unterstützen Schulen und Umweltprojekte, damit sich Anwohner und Anwohnerinnen nicht benachteiligt fühlen gegenüber den Rohingya. Das Zusammenleben funktioniere mittlerweile gut, sagt Kamlesh Vyas, der für die Schweizer Hilfsorganisation «Helvetas» vor Ort arbeitet. Aber gerade unter jungen Bangladeschi, denen es selbst an vielem fehle, gebe es Vorurteile und Spannungen, sagt Vyas. «Sie befürchten, dass die Rohingya ihnen die Arbeit wegnehmen. Deshalb unterstützen wir sie mit Arbeitsmöglichkeiten.»

Schwierigste Lebensbedingungen und kaum Perspektiven: Ausserhalb des Camps darf weder gearbeitet noch eine Schule besucht werden. © Tomas Munita/NYT/Redux/laif
Schwierigste Lebensbedingungen und kaum Perspektiven: Ausserhalb des Camps darf weder gearbeitet noch eine Schule besucht werden. © Tomas Munita/NYT/Redux/laif

Nicht nur in Bangladesch hat die Solidarität gegenüber den Rohingya abgenommen, auch die internationale Gemeinschaft scheint der Flüchtlingskrise müde zu sein. Die Rohingya-Krise ist aus den Medien fast verschwunden. Ukraine, Afghanistan: Es gibt neue Flüchtlingskrisen, welche Europa unmittelbarer betreffen. Im vergangenen Jahr benötigte die UNO 881 Millionen Dollar, um die Rohingya zu versorgen. Es kamen nur 556 Millionen Dollar zusammen. Im Camp heisst das konkret: Das Budget für Essensrationen wird kleiner. Das Budget für Nahrungsmittel pro Person des Welternährungsprogramms sank zuletzt von 12 auf 10 Dollar pro Monat. Konkret bedeutet dies: Die Menschen im Camp haben Hunger.

«Es brechen regelmässig Feuer aus», sagt der Helvetas-Mitarbeiter Vyas. Wer sie legt, ist unbekannt. In den Camps gibt es infolge der Not teilweise bewaffnete Kämpfe zwischen einzelnen Rohingya-Gruppen. Die Leute sind hungrig, unterbeschäftigt, schlecht gebildet und leben auf engem Raum mit wenig Perspektiven. Und in den Camps wird es immer enger: Die Geburtenrate unter den Rohingya ist hoch.

Gefangen mitten im Meer

Bangladesch bemüht sich um die Rückkehr der Rohingya nach Myanmar. Im Jahr 2023 startete ein Pilotprojekt mit der Militärdiktatur in Myanmar: Die beiden Länder verhandeln über eine Rücknahme von etwa 1000 Rohingya. Anfang Jahr besuchte eine Delegation ein Aufnahmecamp in Myanmar, Teil waren auch Rohingya, die zurückkehren wollten. Einer von ihnen sagte nach dem Besuch der Agentur «Reuters», er wolle frei leben in Myanmar und nicht wieder in einem Camp.

Menschenrechtsorganisationen sehen diese Rückführung kritisch, die UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR schreibt, die Bedingungen in der Provinz seien «nicht dienlich für eine nachhaltige Rückkehr der Rohingya-Flüchtlinge».

Bangladesch schifft derzeit ebenfalls Rohingya-Flüchtlinge auf die Insel Bhasan Char. Auf der Insel, mehrere Stunden vom Festland entfernt, hat der Staat Baracken gebaut, dort sollen zukünftig bis zu 400'000 Rohingya leben. Die Umsiedlungen laufen seit einigen Monaten. Die Infrastruktur auf Bhasan Char ist besser als in den Flüchtlingscamps in Cox’s Bazar. Die Häuser sind aus Beton und stabil gebaut, es gibt kleine Verdienstmöglichkeiten auf der Insel und auch Land, das man bewirtschaften kann. Allerdings sind die Bewohner gefangen mitten im Meer, sie können die Insel einzig für bewilligte Familienbesuche verlassen. Menschenrechtsorganisationen haben die Insel mehrfach kritisiert, internationale NGOs sind dort nicht aktiv. Bei einem Besuch im vergangenen Jahr steckten Rohingya uns Briefe zu, in denen sie um Hilfe baten.

Es ist in Bangladesch zu spüren, dass die Regierung die Rohingya lieber früher als später loswerden möchte. Der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre ist mit der Covid-Krise ins Stocken geraten. Im vergangenen Jahr bat Bangladesch den Internationalen Währungsfonds um Hilfe. Die Regierung muss sparen, die Folge sind Stromausfälle und steigende Benzinpreise. Ende Jahr sollen in Bangladesch Wahlen stattfinden. Bereits jetzt gibt es Strassenproteste und viel Unzufriedenheit mit der autoritären Premierministerin. Die Rohingya drohen zwischen die Fronten zu geraten: Sie sind gefangen in einem Land, das zunehmend andere Probleme hat.

* Andreas Babst ist Südasien-Korrespondent der «NZZ» mit Sitz in Delhi.

Zunehmender Autoritarismus

Die Premierministerin Sheikh Hasina Wajed regiert Bangladesch seit 2009. Damals galt das Land noch als Musterschüler in der globalen Entwicklungspolitik. Hasina allerdings führte das Land zunehmend mit eiserner Faust. Bald hat sie ihre dritte Amtszeit hinter sich und will an der Macht bleiben. Widerspruch duldete sie immer weniger. Anfang Jahr schloss sie die führende Oppositionszeitung. Oppositionspolitiker sitzen im Gefängnis. Die Korruption im Land steigt, Bangladesch rangiert im Ranking von Transparency International auf Rang 147 von 180 Ländern. Das Rapid Action Batallion, offiziell eine Antiterror-Einheit der Polizei, ist in den vergangenen Jahren zum Todesschwadron geworden: Ehemalige Mitglieder erzählten jüngst lokalen und internationalen Medien detailliert von Hinrichtungen während angeblicher Antiterroreinsätzen.

Bangladesch in Kürze

Name
Volksrepublik Bangladesch

Hauptstadt
Dhaka
Mit einer Bevölkerung von fast 20 Millionen ist Dhaka weltweit die neuntgrösste urbane Agglomeration.

Bevölkerung
167 Millionen
40,5% der Bevölkerung lebt in Städten
24,3% leben unter der Armutsgrenze

Fläche
148'460 km2

Ethnien
Bengali: 98,8%
27 weitere offiziell bzw. 75 nicht offiziell anerkannte indigene Gruppen

Religion
Islam: 88,4%
Andere: 11,6%

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