Das DEZA-Magazin für
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DEZA
Text: Samuel SchlaefliAusgabe: 04/2020

Die Freiheit, die eigene Kultur zu leben und sich künstlerisch auszudrücken, steht weltweit unter Beschuss. Dabei läge gerade darin ein grosses Potenzial für sozialen Wandel, eine pluralistische Gesellschaft und nachhaltige Entwicklung.

Kunstmaler mit seinen Bildern im Tingatinga-Stil in Sansibar, Tansania.  © Yadid Levy/robertharding/laif
Kunstmaler mit seinen Bildern im Tingatinga-Stil in Sansibar, Tansania. © Yadid Levy/robertharding/laif

Am Abend des 29. Juni wird der 33-jährige Sänger und Bürgerrechtler Hachalu Hundessa in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba mit mehreren Schüssen niedergestreckt. Am nächsten Morgen strömen Hunderte von jungen Männern auf die Strassen, viele mit Holzstecken bewaffnet. Kurz darauf breiten sich die Proteste auf andere Regionen aus. Strassensperren werden errichtet, das Internet kurzzeitig abgeschaltet, Rauch von verbrannten Reifen liegt in der Luft. Die anschliessenden Auseinandersetzungen fordern Hunderte von Toten.

Hundessa war unter der ethnischen Gruppe der Oromo ein Star. Seine Texte handelten von Unterdrückung durch den Staat und fehlender Freiheit. Er galt als Ikone und Stimme der Revolution einer jungen Generation von Äthiopiern, die ihre Frustration, ihrer Wut und ihren Hoffnungen zunehmend freien Lauf lässt. Seine Kunst bewegte Tausende und wirkte wie Schmieröl für einen politischen und sozialen Wandel, der 2018 mit der Regierungsübernahme durch Aby Ahmed näher als je zuvor schien.

Unterdrückte künstlerische Freiheit

«Der Mord an Hundessa hat zu einer politischen Krise geführt und deshalb viel Medienecho erzeugt. Aber praktisch täglich werden irgendwo Künstler angegriffen, verhaftet oder ermordet», sagt Srirak Plipat. Er ist Geschäftsführer von Freemuse, einer NGO mit Sitz in Dänemark, die sich weltweit für die Rechte von Kulturschaffenden einsetzt. Freemuse beruft sich bei ihrer Advocacy-Arbeit auf die Menschenrechte. In Artikel 27 heisst es: «Jeder hat das Recht, künstlerisch tätig zu werden oder sich an Kunst und Wissenschaft zu erfreuen.»

Darüber hinaus ist die künstlerische Freiheit in der 2005 verabschiedeten Unesco-Konvention zum «Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen» verbrieft. Staaten haben demnach das Recht und die Pflicht, Massnahmen zum Schutz der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu treffen, insbesondere, wenn diese gefährdet ist. Die Schweiz hat das Abkommen 2008 ratifiziert und sich verpflichtet, alle vier Jahre einen Bericht über die erzielten Fortschritte zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im In- und Ausland zu veröffentlichen.

Doch trotz internationaler Konvention und verbrieftem Menschenrecht, steht es schlecht um die künstlerische Freiheit. Freemuse dokumentiert auf seiner Webseite praktisch täglich neue Fälle von Verstössen gegen Artikel 27: Der ägyptische Filmemacher Moataz Abdel Wahab wird unter fadenscheinigen Terrorvorwürfen inhaftiert, das Pussy-Riot-Mitglied Peter Verzilov wird in Moskau wegen «obszöner Sprache» zu 15 Tagen Administrativhaft verurteilt, die iranische Schauspielerin Taraneh Alidoosti muss wegen «Propaganda gegen die Regierung» fünf Monate in Haft. Dies nur eine kleine Auswahl von Fällen im Juli dieses Jahres. «Das schockierende ist: Die meisten Verstösse gegen die künstlerische Freiheit werden von Staaten begangen», erzählt Plipat. Und das gelte nicht nur für Afrika, Russland oder den Mittleren Osten, sondern zunehmend auch für Europa. Er hat kürzlich Kunstschaffende in Polen und Ungarn besucht. Die Regierung fördere dort nur noch Kunst, die nationalistisch sei und der Agenda der Regierung diene. Kulturschaffende begännen sich selbst zu zensieren, damit sie weiterhin öffentliche Gelder erhalten. «Dabei besteht ihre Aufgabe ja genau darin, kritische Themen zur Sprache zu bringen sowie politische und soziale Entwicklungen kritisch zu reflektieren.»

Stand der künstlerischen Freiheit

Die NGO «Freemuse» publiziert jährlich den Bericht «State of Artistic Freedom». Für das Jahr 2019 hat sie über 700 Verletzungen des Rechts auf künstlerische Freiheit in 93 Ländern dokumentiert. Am häufigsten bemängelt sie die politisch begründete Zensur von künstlerischen Inhalten durch Regierungen sowie durch politische und religiöse Gruppierungen. Besonders betroffen sind Künstlerinnen, die sich für die Rechte von Migranten, Frauen und LGBTI einsetzen. Freemuse hat 13 Staaten identifiziert, die sich besonders besorgniserregend entwickeln: Brasilien, China, Ägypten, Indonesien, Indien, Iran, Libanon, Nigeria, Russland, Türkei, Zimbabwe, die USA und Frankreich. In der letztgenannten Kulturhochburg haben die politische Polarisierung und die Einschränkung von Freiheiten im Kampf gegen den Terrorismus zu verstärkter Zensur und schrumpfender Freiheit für künstlerische Entfaltung geführt.

Darüber sprechen, was Menschen bewegt

Honey Al-Sayed musste fliehen, weil sie die Politik und Normen in ihrer Heimat hinterfragte. Die landesweit bekannte Radiomoderatorin flüchtete 2012 aus Syrien, nachdem die Repressionen gegen Journalistinnen und Künstler lebensbedrohlich wurden. Al-Sayed wuchs in Kuwait und Ägypten auf. Sie studierte Medienwissenschaften im vom Bürgerkrieg versehrten Libanon. 2001 zog sie nach Syrien, ins Land ihrer Eltern, und begann dort mit ihrer Radiosendung «Good morning Syria». Die dreistündige Live-Show erreichte bald wöchentlich ein Publikum von bis zu sieben Millionen Hörerinnen und Hörern. In ihrer Sendung sprach sie über all die Dinge, die in der Öffentlichkeit keinen Raum hatten – Traumata, sexuelle Gewalt, die Rechte der Frauen und das kulturelle Erbe, fernab von falsch verstandenem Traditionalismus und religiösem Fundamentalismus.

Tanztheater rund um missachtete Opfer von Zwangsehen während des Regimes der Roten Khmer in Kambodscha. © Nobuyuki Arai
Tanztheater rund um missachtete Opfer von Zwangsehen während des Regimes der Roten Khmer in Kambodscha. © Nobuyuki Arai

Nach ihrer Flucht musste sie sich in den USA neu erfinden. Hoffnung schöpfte sie aus ihrem unermüdlichen Engagement für kulturelle Vielfalt und Medienfreiheit. Mit drei syrischen Flüchtlingen baute sie das arabischsprachige Internetradio «Souriali» auf. Heute wird es von 27 Exilsyrerinnen und -syrern in 17 Staaten betrieben und hat rund eine halbe Million Follower. «Mit Souriali machen wir Edutainment für den sozialen Wandel», erzählt Al-Sayed. Als Beispiel nennt sie eine Kochshow, mit welcher eine alternative Geschichte von Syrien und seiner Gesellschaft erzählt wird, fernab von Regierungspropaganda und dem Opfernarrativ westlicher Medien.

Für Al-Sayed gehören Medien, Kultur und Kunst eng zusammen. «Kultur bewegt Menschen und die Medien verstärken diese Bewegung», sagt sie. Das Erzählen von Geschichten sei die Urform jeglichen kulturellen Ausdrucks. «Von den ersten Höhlenzeichnungen bis zu Social Media – wir können gar nicht anders, als uns gegenseitig Geschichten zu erzählen.» Wir bräuchten die Literatur, das Theater und die Musik, um dem Erlebten Sinn zu verleihen. «Im durch den Bürgerkrieg zerrütteten Libanon war es das Theater, das meine Hoffnung am Leben hielt», erinnert sich Al-Sayed. «Während Kriegen und Krisen brauchen wir die Kultur sogar noch mehr als sonst.»

Mit Kunst zur Empathie

Basierend auf ihren eigenen Erfahrungen und mit Unterstützung des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP) gründete Al-Sayed 2018 «Media and Arts for Peace» (MAP). Die Organisation unterstützt Kulturschaffende in schwierigen Kontexten, vor allem im arabischen Raum. Gleichzeitig führt sie Trainings durch und hält Vorträge darüber, wie Kultur und Medien zu Frieden und sozialem Wandel beitragen können. Dazu nutzt MAP auch die künstlerische Performance selbst, um Nähe und Empathie zu schaffen. «Kunst kann die Art, wie wir die Menschen sehen, humanisieren.»

Kunstausstellung in der Fabrica de Arte Cubano in Havanna, Kuba. © Paul Hennessy/Polaris/laif
Kunstausstellung in der Fabrica de Arte Cubano in Havanna, Kuba. © Paul Hennessy/Polaris/laif

Sie nennt ein Beispiel aus ihrer aktuellen Arbeit: Bei einer Retraite von CEOs sollte unter anderem das Thema Migration thematisiert werden. MAP organisierte dafür eine halbstündige Performance. Eine Opernsängerin, ein Oud-Spieler und ein Maler – alle waren aus Syrien in die USA geflüchtet – präsentierten den CEOs ihre Heimat aus einer künstlerischen Perspektive. «Einige hatten Tränen in den Augen, so gerührt waren sie», erzählt Al-Sayed. «Das anschliessende Gespräch war vertraut und handelte von der Oud, der syrischen Musik und Malerei – und nicht von Flucht oder davon, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein.» Einen solchen menschlichen Zugang schaffen, das könne keine Paneldiskussion, kein Workshop oder keine Power-Point-Präsentation, ist Al-Sayed überzeugt.

DEZA-Kulturengagement in der Schweiz

Zusätzlich zum Kulturengagement im Ausland, fördert die DEZA den Zugang von professionellen Kunstschaffenden aus Lateinamerika, Afrika, Asien und Osteuropa zum Schweizer Publikum sowie zum hiesigen Kulturmarkt und professionellen Netzwerken. Dazu hat sie langfristige Partnerschaften mit Fachorganisationen der Schweizer Kulturbranche aufgebaut. Zum Beispiel mit der Filmstiftung «trigon-film», die seit 1988 Filme aus Lateinamerika, Asien, Afrika und dem östlichen Europa auswählt und diese in Schweizer Kinos ausstrahlt. Die Stiftung betreibt zudem eine eigene DVD-Edition sowie die Streaming-Plattform filmingo.ch, um die Filme auch langfristig zugänglich zu machen. Über den Fonds «Visions Sud Est» werden zudem Filmproduktionen aus dem Süden und Osten gefördert. Neben der finanziellen Unterstützung schafft der Fonds erhöhte Visibilität für die Werke und ermöglicht deren Verleih in der Schweiz. Darüber hinaus können Kulturinstitutionen in der Schweiz Gesuche beim «SüdKulturFonds» einreichen für Defizitgarantien und Projektbeiträge für Produktionen und Veranstaltungen mit Kunstschaffenden aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa.


Mehr Informationen unter: artlink.ch; trigon-film.org und visionssudest.ch

Tief im Alltag verankert

Nici Dahrendorf hat ähnliche Erfahrungen gemacht: «Tanz und Musik sind oft viel mächtiger als Worte», sagt die renommierte Expertin für Menschenrechtsfragen. «Speziell in Situationen, die von Traumata geprägt sind, die sich meist nur schwer in Worten ausdrücken lassen.» Als sie in der Demokratischen Republik Kongo ein UNO-Programm leitete, um Frauen vor Vergewaltigungen durch Soldaten zu schützen, arbeitete sie eng mit kongolesischen Musikern und Theatergruppen zusammen. Musik, Tanz und Theater seien tief im kongolesischen Alltag verankert und deshalb ein mächtiges Instrument, um Botschaften in der Bevölkerung zu verankern. «Kunstschaffende verstehen ihr Publikum. Sie kennen die Tabus und Codes der Gesellschaft und können Botschaften an einen spezifischen Kontext anpassen.»

Wandmalerei im Museo a Cielo Abierto im Viertel San Miguel in Santiago, Chile.  © Jose Giribas/SZ Photo/laif
Wandmalerei im Museo a Cielo Abierto im Viertel San Miguel in Santiago, Chile. © Jose Giribas/SZ Photo/laif

Während des Projekts hätten die Künstlerinnen selbst die Grenzen der Darstellung erweitert, indem sie eine Vergewaltigung theatralisch nachstellten, um den unglaublichen Schmerz und die Trauer, die damit einhergehen, zu vermitteln. Das birgt jedoch auch Gefahren. Entwicklungsorganisationen könnten leicht Gefahr laufen, Kunstschaffende für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, sagt Dahrendorf – besonders in Kontexten, in welchen diese wenig Alternativen haben. Kulturschaffende bräuchten Raum, um frei arbeiten zu können. Dieser dürfe nicht durch die Agenda von Geldgebern beschnitten werden. Das wichtigste sei den Partnern zuzuhören und sich dabei stets zu fragen: «Ist unsere Botschaft auch wirklich ihre Botschaft?»

Wichtig für Flüchtlinge: Tanzen und Singen

Srirak Plipat von Freemuse plädiert für holistische Ansätze und mehr Mut in der Entwicklungszusammenarbeit. Nord-Süd-Kulturaustausch, Workshops, Debatten und die Unterstützung von einzelnen Künstlern und Kulturprojekten seien wichtig, reichten aber längst nicht aus. «Wir müssen politische und ökonomische Rahmenbedingungen schaffen, in denen Kulturschaffende sicher sind und sich frei entfalten können.» Plipat erwartet, dass Geberländer wie die Schweiz, sich auch politisch vermehrt für das Menschenrecht auf kulturelle Freiheit und künstlerische Entfaltung einsetzen. Norwegen, Schweden und Finnland seien diesbezüglich Vorreiter. Wichtig erachtet er zudem starke globale Netzwerke, über welche Erfahrungen sparten- und länderübergreifend ausgetauscht werden können. Damit Kulturschaffende selbst für ihre Rechte lobbyieren und politischen Druck ausüben können, müssten diese geschult werden. Das lohnt sich, ist Plipat überzeugt, denn Kunstschaffende seien Experten darin eine Kultur des freien und friedlichen Dialogs zu schaffen. «Ein solcher steht am Anfang jeder Entwicklung.»

Das Unesco-Übereinkommen von 2005 sieht vor, dass Kultur in Entwicklungsstrategien einbezogen wird und Entwicklungsländer in ihrer Kulturförderung unterstützt werden. In den UNO-Zielen für nachhaltige Entwicklung bis 2030 werden Kunst und Kultur zwar nicht als eigenes Ziel genannt, aber als Treiber für viele der 17 Unterziele erwähnt. Und trotzdem hat die Kulturförderung in der Entwicklungszusammenarbeit bis heute einen schweren Stand. «Unsere Arbeit wird oft marginalisiert», sagt Honey Al-Sayed. Die Unterstützung von Kunst und Kultur gelte neben Themen wie humanitärer Hilfe, Friedensförderung oder Gesundheit, als ‚soft‘ und zweitrangig. «In den Regierungen fehlt heute leider meist noch das Verständnis, dass Kriegsflüchtlinge nicht nur Decken und fliessendes Wasser zum Überleben benötigen, sondern genauso Möglichkeiten zum Tanzen und Singen.»

Vertiefte Auseinandersetzung

Im August hat die DEZA einen Bericht mit mehreren Reflexionspapieren zu Kultur und Entwicklung publiziert. Sie geht darin der Frage nach, wie Kulturengagement und die klassische Entwicklungszusammenarbeit zusammenhängen. Basierend auf einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema und praktischen Beispielen aus verschiedenen Regionen, werden Wirkung und Potenzial des kulturellen Schaffens in Hinblick auf soziale Transformation aufgezeigt.

Die Reflektionspapiere stehen unter folgendem Link mehrsprachig zum kostenlosen Download bereit: www.deza.admin.ch/Publikationen

Kommen Sie mit. Ab April 2024 finden Sie alle Geschichten rund um die Humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz auf deza.admin.ch/geschichten.

Wir freuen uns auf ihren Besuch.
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