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Text: Samuel SchlaefliAusgabe: 04/2021

Nach beinahe 50 Jahren Militärdiktatur erlebte eine aufstrebende Generation von Burmesinnen und Burmesen ab 2011 ungekannte Freiheiten. Diesen Februar putschte sich das Militär erneut an die Macht. Innert Monaten versank Myanmar im gewaltvollen Chaos. Was ist aus den Träumen der burmesischen Jugend geworden?

Jugendliche protestieren am 14. Juli 2021 in den Strassen von Yangon gegen die Militärdiktatur in ihrem Land.  © San Chaung/Sacca/Redux/laif
Jugendliche protestieren am 14. Juli 2021 in den Strassen von Yangon gegen die Militärdiktatur in ihrem Land. © San Chaung/Sacca/Redux/laif

Die 30-jährige Saijai* wuchs im Gliedstaat Shan im Nordosten Myanmars auf. Ihr Vater war Major im burmesischen Militär. Bis zu ihrem elften Lebensjahr lebte Saijai auf einem Militärcampus. Das Land steckte damals noch fest in den Fängen einer brutalen Militärdiktatur. Sämtliche Informationen waren zensiert, die Bevölkerung wurde überwacht und schikaniert. Westliche Staaten verhängten drakonische Sanktionen, was die Armut im Land noch verschärfte. Nur Angehörigen der Armee wie Saijais Vater hatten reichlich zu essen, konnten ihre Kinder in bessere Schulen schicken, profitierten von eigenen Spitälern sowie von Beteiligungen an lukrativen Unternehmenskonglomeraten.

«Mein Vater war ein gescheiter Mann», sagt Saijai respektvoll. «Aber er und meine Mutter haben immer gehorcht. Sie haben sich der Gehirnwäsche des Militärs ergeben und an ihren Privilegien festgehalten.» Dass Saijai der Gehirnwäsche entkam, verdankt sie vor allem ihrer Grossmutter. Diese hatte ein kleines Vermögen durch Handel zwischen der Wirtschaftsmetropole Mandalay und der chinesischen Grenzstadt Ruili angehäuft. Damit ermöglichte sie Saijai als erste in ihrer Familie ein Studium im Ausland. Sie ging zuerst nach Kuala Lumpur und später nach Dublin, um Wirtschaft zu studieren. «Erst dort habe ich den Wert von Freiheit schätzen gelernt und erkannt, was die Militärjunta unserem Land angetan hat», sagt die junge Frau.

Aufspringen auf den Zug der Globalisierung

54 Millionen Menschen leben in Myanmar; 43 Prozent davon sind unter 25 Jahre alt. Millionen von Jugendlichen profitierten nach 2011 von bislang ungekannten Freiheiten. Damals initiierte Präsident Thein Sein, ein hochrangiger Militär, nach fast 50 Jahren Militärdiktatur und internationaler Isolation einen Öffnungskurs. 2010 war die Freiheitsikone Aung San Suu Kyi nach 15 Jahren aus dem Hausarrest entlassen worden. 2012 gewann ihre Partei, die «National League for Democracy» (NLD), in den ersten freien Zwischenwahlen mehrere Parlamentssitze. Drei Jahre später erzielte sie bei den Wahlen einen Erdrutschsieg.

Die Demokratisierung Myanmars hatte jedoch von Beginn an Schönheitsfehler: Die NLD hatte zwar die Mehrheit im Parlament, aber über die Verfassung von 2008 hatte sich das Militär die Kontrolle über wichtige Ministerien und 25 Prozent der Parlamentssitze zugesichert. Genug, um jegliche Verfassungsänderung und Machtbeschneidung des Militärs zu verhindern. Der Krieg der Armee gegen die ethnischen Minderheiten in den Grenzregionen ging zwar weiter, aber die Freiheit und Lebensqualität der Bevölkerungsmehrheit, allen voran der ethnischen Bamar, vergrösserte sich signifikant. Die Armut ging zurück, zusätzliche Schulen wurden gebaut, Dörfer elektrifiziert. Smartphones wurden praktisch für alle erschwinglich – und damit auch der Zugang zum Internet und zu Informationen aus aller Welt.

Als Saijai 2015 aus Irland in ihre Heimat zurückkehrt, emanzipiert sie sich von ihren Eltern und zieht nach Yangon, in die wuselige Kultur- und Wirtschaftshauptstadt mit einer Bevölkerung von über sieben Millionen. Sie beginnt für eine internationale NGO zu arbeiten, verdient gut, ist selbständig und unterstützt ihren jungen Bruder, der sich an der Universität in Yangon für ein Psychologiestudium einschreibt. Bei den Wahlen im November 2020 erzielt die NLD erneut einen Erdrutschsieg und gewinnt sogar noch zusätzliche Sitze im Parlament. Eine Ohrfeige für die «Union Solidarity and Development Party», die politische Vertretung der Armee. Die Bevölkerung bekennt sich erneut zu Öffnung und Demokratie. Die Jugend hat Perspektiven; Saijai ist zufrieden.

Myanmars Ära der Zuversicht endet am 1. Februar 2021 abrupt: Frühmorgens wundert sich Saijai, weshalb so wenig Menschen und Autos auf den Strassen Yangons unterwegs sind und weshalb ihr Mobiltelefon keinen Empfang hat. Sofort kursieren Gerüchte von einem Militärputsch, die schon bald durch die Armee bestätigt werden. In den kommenden Wochen geht Saijai Tag für Tag an die Proteste, an welchen hunderttausende Burmesen und Burmesinnen kreativ und friedlich mit Konzerten, Sit-ins und Autoblockaden gegen den Putsch demonstrieren. Abends, wenn die Ausgangssperre beginnt, steht sie wie Hunderttausende in Yangon auf dem Balkon, schlägt mit Kellen auf Kochtöpfe und stimmt in buddhistische Mantras ein. So sollen die bösen Geister des Militärs vertrieben werden.

Mutige Generationen Z und Y

Die Proteste halten monatelang an, die Generationen Z (bis 20) und Y (bis 30) sind nicht von der Strasse zu kriegen. Sie organisieren sich über soziale Medien trotz regelmässiger Internetsperren und dem Verbot von Facebook, Instagram und Twitter. Und sie posten Bilder und Videos, wie Jugendliche auf offener Strasse exekutiert werden, Krankenwagen von Soldaten beschossen werden und friedliche Demonstranten in der Nacht bei Hausdurchsuchungen festgenommen werden. Ihnen und einer Generation junger, furchtloser Journalistinnen und Journalisten ist es zu verdanken, dass die internationale Gemeinschaft trotz aller Schikanen des Militärs und praktisch kompletter Abwesenheit internationaler Medien, über die dramatischen Ereignisse im Bild blieb.

Woher die Jungen den Mut nehmen, täglich auf die Strasse zu gehen, hatte ich Sajiai damals gefragt. «Der Mut kommt von der Angst. Wir wollen nicht wieder zurück in die Dunkelheit der Militärdiktatur», antwortete sie. «Wir wissen noch aus eigener Erfahrung oder aus den Erzählungen unserer Eltern, wie das Leben damals war – alles war schlechter, alles!»

Ruinierte Zukunft

Heute wird dieser Mut überdeckt durch grenzenlose Gewalt, Repression und den Kampf ums tägliche Überleben. Zwar gibt es in den grossen Städten nach wie vor Demonstrationen. Doch diese «Flash Protests» dauern meist nur noch wenige Minuten, weil das Risiko, von Soldaten oder Polizisten beschossen oder verhaftet zu werden, schlicht zu gross ist. Bilder davon auf den sozialen Medien sollen bezeugen, dass das Volk noch immer gegen die Armee geeint ist.

Viele Jugendliche haben sich aber auch bewaffnet und in Bürgerwehren organisiert. Praktisch täglich verüben sie Anschläge auf Polizeistationen und Unternehmen des Militärs. Andere sind zu den ethnischen Gruppen in die Grenzregionen geflüchtet und erhalten dort Guerilla-Kampftrainings. Die UN-Sondergesandte für Myanmar, die Schweizerin Christine Schraner Burgener, warnte im Juni vor einem offenen Bürgerkrieg.

Viele Burmesinnen und Burmesen haben mittlerweile den Glauben an eine Rückkehr in die Freiheit verloren. Sie wollen nur noch weg. Kyaw* konnte Ende April mithilfe eines Freundes in Amsterdam nach Belgien fliehen. Der 28-Jährige ist homosexuell und arbeitet für eine Organisation, die sich für die Rechte der LGBTIQ in Myanmar einsetzt. Im Februar 2020 half er noch mit, die sechste Pride in Yangon zu veranstalten. Ein Jahr später, zwei Wochen nach dem Putsch, sagte er: «Hier geht es um alles oder nichts. Wir waren 50 Jahre von der Welt abgeschlossen. Wenn wir nun nichts tun, ist unsere Zukunft ruiniert.» Damals klang er hoffnungsvoll: Die Jugend sei besser ausgebildet und vernetzt als noch ihre Eltern. Und vor allem: Sie sei geeint. Minderheiten würden nun als wichtige Unterstützung der Proteste anerkannt.

Humanitäre Krise in Myanmar

Bis Ende Juli hat die Militärjunta 940 Aktivisten, Journalistinnen, Politiker und Ärztinnen getötet und hielt beinahe 5400 Menschen aus politischen Gründen gefangen. In den Grenzgebieten sind laut UNO über 230'000 Zivilisten aufgrund von Kämpfen zwischen Armee und ethnischen bewaffneten Organisation geflohen; drei Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Aufgrund der andauernden Kämpfe, der Omnipräsenz des Militärs entlang der wichtigsten Transportrouten und bürokratischen Hindernissen ist die Versorgung der Bevölkerung mit lebensrettenden Gütern wie Nahrungsmitteln und Medikamenten stark eingeschränkt. UNO-Experten haben die Militärjunta der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt. Menschenrechtsgruppen fordern ein verbindliches Waffenembargo durch den UNO-Sicherheitsrat. Im Juni konnte sich die UNO-Generalversammlung lediglich auf eine nicht-verbindliche Resolution gegen Waffenlieferungen einigen. Russland und China unterstützen die Junta weiterhin, während die USA, die EU und Grossbritannien Sanktionen gegen Militärangehörige und deren Unternehmen verhängt haben.

Kollabierendes Gesundheitssystem

Fünf Monate später ist von der damaligen Zuversicht wenig geblieben: «Die meisten meiner Freunde in Yangon verstecken sich», erzählt er. «Manche wurden vom Militär verhaftet und gefoltert.» Viele hätten ihre Jobs verloren. Kyaw versucht nun seine Freunde und Mitarbeitenden aus dem Exil finanziell zu unterstützen. Und er gibt ihnen Ratschläge zu Fluchtmöglichkeiten. Er will um jeden Preis in Belgien bleiben, wo er Leute kennt und sich aufgehoben fühlt. Doch sein Visum läuft bald aus. Ob er Asyl erhält, weiss er noch nicht.

Saijai und ihr Bruder sind noch immer in Yangon. Sie musste in ein anderes Viertel umziehen, nachdem die Polizei in ihrer Strasse nachts die Häuser nach Aktivistinnen durchsucht hatte. Neun Nachbarn wurden verhaftet; zwei kamen wieder frei. Als wir Mitte Juli telefonieren, hustet sie stark: «Ich habe mich mit Covid-19 infiziert und bin in der Selbstisolation. Das ist mein zehnter Tag.» 80 Prozent in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis hätten sich mit dem Virus angesteckt, erzählt sie. «Praktisch jeden Tag stirbt jemand, der mir nahesteht.»

Kurz vor dem Kollaps: Das durch den Militärputsch ohnehin schon geschwächte Gesundheitssystem Myanmars gerät mit der andauernden Covid-19-Pandemie noch mehr unter Druck.  © Haymhan Xinhua/eyevine/laif
Kurz vor dem Kollaps: Das durch den Militärputsch ohnehin schon geschwächte Gesundheitssystem Myanmars gerät mit der andauernden Covid-19-Pandemie noch mehr unter Druck. © Haymhan Xinhua/eyevine/laif

Seit Ende Juni rollt eine dritte Covid-19-Welle, inklusive der hochansteckenden Delta-Variante, praktisch ungehindert übers Land. Mitte Juli sind alle Spitäler voll; Sauerstoffflaschen gibt es keine mehr, Särge bilden lange Schlangen vor Krematorien. Das durch den Putsch ohnehin geschwächte Gesundheitssystem kollabiert vollends. «Ich habe meinem kleinen Bruder gesagt, er solle fliehen. Ich will nicht, dass er hier stirbt.» Ihr Plan: Die Wohnung in Yangon zu verkaufen und die Einkünfte für Schlepper auszugeben, die ihn aus dem Land bringen. Und wenn das Geld reicht, dann geht sie gleich mit.

* Namen zum Schutz der Personen durch die Redaktion geändert.

Myanmar in Kürze

Name
Republic of the Union of Myanmar (Myanmar).
Vor 1989 war der Name «Burma» geläufiger, den Grossbritannien als Kolonialmacht dem Land einst gegeben hatte. Manche Staaten haben den durch die Militärjunta veranlassten Namenswechsel nie akzeptiert (u.a. die USA). Die UNO spricht heute von Myanmar.

Fläche
676'578 km2

Hauptstadt
Naypyidaw (administrativ)
Yangon (wirtschaftlich und kulturell)

Ethnien
Die Regierung anerkennt 135 ethnische Gruppen. Die grösste Gruppe der Bamar (68%) leben v.a. im Landesinneren. Wichtige ethnische Gruppen in Grenzgebieten sind Shan (9%) Karen (7%), Rakhine (4%) und Mon (2%).

Religion
Die Mehrheit der Bevölkerung ist buddhistisch (88%). Zudem gibt es christliche (6%), muslimische (offiziell 4%) und hinduistische (0.5%) Minderheiten. Der muslimische Bevölkerungsanteil ist seit 2017 stark geschrumpft, nachdem das burmesische Militär die Rohingya, die grösste muslimischen Gruppe im Gliedstaat Rakhine, massenhaft nach Bangladesch vertreibt.

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